Eine Ablenkung vom wahren Leben, eine Flucht aus der
Realität, das ist es, was sich Verleger Ernst Rowohlt von Schriftsteller Kurt
Tucholsky in einem fiktiven Briefwechsel für seine Leser wünschte. Tucholsky
erfüllte den Wunsch des Verlegers nach “einen leichten, sommerlichen Roman,
vielleicht einer Liebesgeschichte” und schreibt einen seiner grössten
Publikumserfolge: “Schloss Gripsholm. Eine Sommergeschichte”*. Als Zaungäste
reisen wir mit Ich-Erzähler Peter, genannt Daddy und seiner Freundin Lydia, genannt
Prinzessin, nach Südschweden. Die unbeschwerte Sommerfrische gespickt mit
Neckereien – teilweise auf Missingsch** - wird durch interessante Besucher, nämlich
Freund Karlchen und die erotisch anziehende Freundin Billie bereichert. Einen Riss bekommt die heitere Idylle als das
Paar der kleinen Ada begegnet, die in einem nahe liegenden Kinderheim lebt und
sich den Repressalien der Heimleiterin ausgesetzt sieht. Lydia und Peter nehmen
sich des Kindes an und organisieren, dass es zu seiner (bisher ahnungslosen)
Mutter in die Schweiz zurück kehren kann.
Credit: Kangourette |
Kaum ein Duft verkörpert das entspannte Nichtstun in
“Schloss Gripsholm” für mich so sehr wie “Lindenblüte” von Harry Lehmann. Die
(vermeintliche) Einfachheit dieses Duftes gepaart mit der Ästhetik und Stimmung
der Weimarer Zeit, die selbst in der lockeren und sommerlichen Atmosphäre von
Tucholskys Erzählung mitschwingt, bilden für mich eine stimmige Einheit. Dass
sowohl die Marke Harry Lehmann als auch die beiden Hauptfiguren Peter und Lydia
aus Berlin stammen (Lydia ursprünglich aus Rostock, wie wir schnell erfahren - Stichwort
“Missingsch”), wo zudem die legendäre Straße “Unter den Linden” beheimatet ist,
mag diese Assoziationskette bei mir verstärken.
Über Harry Lehmann
Harry Lehmann, Parfum nach Gewicht wurde 1926 in Berlin gegründet. Lehmanns Anliegen in den 1920er Jahren war es “auf Luxusverpackung und Werbung” zu verzichten, damit die Düfte “auch in der damaligen schwierigen Zeit erschwinglich blieben”. Diesem Konzept ist man bis heute treu geblieben. Aktuell ist das Geschaeft von Harry Lehmann in der Kantstraße 106, 10627 Berlin meines Wissens geschlossen, Bestellungen werde jedoch gerne per e-mail entgegen genommen. Weitere Informationen findet ihr unter www.Parfum-individual.de
Nun, ganz einfach, nach Lindenblüte – das hättet ihr
jetzt nicht vermutet, oder? Dies könnte in der Tat die kürzeste Duftreview auf
diesem Blog werden, da ich diesem wunderbaren authentischen monofloralen Duft
verbal wenig hinzuzufügen habe (wobei der Begriff monofloral mit Vorsicht zu genießen ist).
Aber ich versuche mal, meine Duft-Eindrücke mit Tucholskys Hilfe einzufangen:
Credit:Kangourette |
Satt-grünes Blätterrauschen bestimmt den Auftakt des
Duftes. Ich sehe vor meinem inneren Auge Lydia und Peter an einem noch frischen
Sommermorgen eine Allee entlang radeln, es liegt noch Tau auf der Wiese und
Lydia hat Gänsehaut auf den nackten Beinen.
Umgeben vom herrlich blumigen
leicht süßen Duft der Lindenblüten machen die beiden am späten Vormittag eine
Pause und liegen im Gras. Sie unterhalten sich und necken einander. Bienen
summen friedlich, nicht weit entfernt haben Bauern Heu zum trocknen aufgetürmt,
dessen leichter Duft sich mit dem der Lindenblüten mischt.
Lydia hat ihre Strickjacke ausgezogen und beginnt mit
dem an einem Grashalm kauenden “Daddy”
die im Buch allgegenwärtigen übermütigen Sprachpiele um Namen und Identitäten,
die der Erzähler liebevoll ironisch als “Übereinstimmung in den Grundfragen des
Daseins” beschreibt ohne ihnen eine geheimnisvolle, tiefere Bedeutung
beizumessen, was dem humorvoll-witzigen Grundtenor der Erzählung entspricht. Die Harmonie und Leichtigkeit wird durch das
obligatorische “Gib mal nen Kuss auf Lydia” apostrophiert.
Auf dem Heimweg ins Schloss Gripsholm steht die Sonne
hoch am Himmel, die Luft ist warm und fast ein wenig schwül. Der leichte
Sommerwind weht Blütenstaub und zarte honigsüsse Aromen hinüber. Die
“Prinzessin” und ihr “Daddy” fühlen sich angenehm müde von Sonne, Luft - und
Liebe.
Credit:Kangourette |
Ich hoffe, ich konnte euch mit dieser kleinen Skizze
einen brauchbaren Eindruck dieses wunderbaren Lindenblütenduftes vermitteln - und
euch vielleicht ein wenig Lust auf Tucholsky-Lektüre machen.
Natürlich wurde diskutiert, inwieweit Kurt Tucholskys
Erzählung autobiographische Züge aufweist, was dieser übrigens bestritt.*** Die Widmung „Für IA 47 407“ bezog sich jedenfalls
wenig diskret auf die Journalistin Lisa Matthias (deren Autokennzeichen
entsprechend lautete) mit der er 1927 bis 1930 eine Beziehung hatte und in
Schweden nachweislich Urlaub machte. 1929 emigrierte er nach Schweden, wo er
bis zu seinem Selbstmord im Jahr 1935 lebte.
Schloss Gripsholm Credit: https://www.cityguide.info/stockholm/gripsholm/ |
Jedenfalls ist es schön, sich bei Bedarf ein wenig Gripsholm-Feeling
aus dem Flakon gönnen zu können um die “Seele baumeln" lassen zu können - und
diese Romanze muss im Gegensatz zu der von Lydia und Kurt auch nicht nach einem
Sommer enden. Ihre gemeinsame Zeit in Schweden ist begrenzt obgleich sie einen
kurzen Moment sogar mit dem Gedanken spielen dort zu bleiben, doch sie sehen
ein: „Nein, damit ist es nichts. Wenn man umzieht, ziehen die Sorgen nach. Ist
man vier Wochen da, lacht man über alles — auch über die kleinen
Unannehmlichkeiten. Sie gehen dich so schön nichts an. Ist man aber für immer
da, dann muss man teilnehmen.“
Wo könnt ihr die Seele am besten baumeln lassen? Gibt es einen Duft, der euch dabei unterstützt?
Bleibt gesund
Bussis
Eure Kangourette
*erschienen 1931
**"Missingsch ist das, was herauskommt, wenn ein
Plattdeutscher Hochdeutsch sprechen will. Er krabbelt auf der glatt gebohnerten
Treppe der deutschen Grammatik empor und rutscht alle Nase lang wieder in sein
geliebtes Platt zurück. Lydia stammt aus Rostock, und sie beherrscht dieses
Idiom in der Vollendung."
***Kurt Tucholsky: Brief an Alfred Stern. In: Briefe.
Auswahl 1913 bis 1935. Hrsg. von Roland Links. Berlin 1983
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