Montag, 27. April 2020

Support Small business 2: Lindenblüte von Harry Lehmann Parfum Individual


Eine Ablenkung vom wahren Leben, eine Flucht aus der Realität, das ist es, was sich Verleger Ernst Rowohlt von Schriftsteller Kurt Tucholsky in einem fiktiven Briefwechsel für seine Leser wünschte. Tucholsky erfüllte den Wunsch des Verlegers nach “einen leichten, sommerlichen Roman, vielleicht einer Liebesgeschichte” und schreibt einen seiner grössten Publikumserfolge: “Schloss Gripsholm. Eine Sommergeschichte”*. Als Zaungäste reisen wir mit Ich-Erzähler Peter, genannt Daddy und seiner Freundin Lydia, genannt Prinzessin, nach Südschweden. Die unbeschwerte Sommerfrische gespickt mit Neckereien – teilweise auf Missingsch** -  wird durch interessante Besucher, nämlich Freund Karlchen und die erotisch anziehende Freundin Billie bereichert. Einen Riss bekommt die heitere Idylle als das Paar der kleinen Ada begegnet, die in einem nahe liegenden Kinderheim lebt und sich den Repressalien der Heimleiterin ausgesetzt sieht. Lydia und Peter nehmen sich des Kindes an und organisieren, dass es zu seiner (bisher ahnungslosen) Mutter in die Schweiz zurück kehren kann. 


Credit: Kangourette


Kaum ein Duft verkörpert das entspannte Nichtstun in “Schloss Gripsholm” für mich so sehr wie “Lindenblüte” von Harry Lehmann. Die (vermeintliche) Einfachheit dieses Duftes gepaart mit der Ästhetik und Stimmung der Weimarer Zeit, die selbst in der lockeren und sommerlichen Atmosphäre von Tucholskys Erzählung mitschwingt, bilden für mich eine stimmige Einheit. Dass sowohl die Marke Harry Lehmann als auch die beiden Hauptfiguren Peter und Lydia aus Berlin stammen (Lydia ursprünglich aus Rostock, wie wir schnell erfahren - Stichwort “Missingsch”), wo zudem die legendäre Straße “Unter den Linden” beheimatet ist, mag diese Assoziationskette bei mir verstärken.

Über Harry Lehmann

Harry Lehmann, Parfum nach Gewicht wurde 1926 in Berlin gegründet. Lehmanns Anliegen in den 1920er Jahren war es “auf Luxusverpackung und Werbung” zu verzichten, damit die Düfte “auch in der damaligen schwierigen Zeit erschwinglich blieben”. Diesem Konzept ist man bis heute treu geblieben. Aktuell ist das Geschaeft von Harry Lehmann in der Kantstraße 106, 10627 Berlin meines Wissens geschlossen, Bestellungen werde jedoch gerne per e-mail entgegen genommen. Weitere Informationen findet ihr unter www.Parfum-individual.de



 Wie riecht “Lindenblüte” von Harry Lehmann?

Nun, ganz einfach, nach Lindenblüte – das hättet ihr jetzt nicht vermutet, oder? Dies könnte in der Tat die kürzeste Duftreview auf diesem Blog werden, da ich diesem wunderbaren authentischen monofloralen Duft verbal wenig hinzuzufügen habe (wobei der Begriff  monofloral mit Vorsicht zu genießen ist). 

Aber ich versuche mal, meine Duft-Eindrücke mit Tucholskys Hilfe einzufangen:

Credit:Kangourette

Satt-grünes Blätterrauschen bestimmt den Auftakt des Duftes. Ich sehe vor meinem inneren Auge Lydia und Peter an einem noch frischen Sommermorgen eine Allee entlang radeln, es liegt noch Tau auf der Wiese und Lydia hat Gänsehaut auf den nackten Beinen. 

Umgeben vom herrlich blumigen leicht süßen Duft der Lindenblüten machen die beiden am späten Vormittag eine Pause und liegen im Gras. Sie unterhalten sich und necken einander. Bienen summen friedlich, nicht weit entfernt haben Bauern Heu zum trocknen aufgetürmt, dessen leichter Duft sich mit dem der Lindenblüten mischt.

Lydia hat ihre Strickjacke ausgezogen und beginnt mit dem an einem Grashalm kauenden “Daddy” die im Buch allgegenwärtigen übermütigen Sprachpiele um Namen und Identitäten, die der Erzähler liebevoll ironisch als “Übereinstimmung in den Grundfragen des Daseins” beschreibt ohne ihnen eine geheimnisvolle, tiefere Bedeutung beizumessen, was dem humorvoll-witzigen Grundtenor der Erzählung entspricht. Die Harmonie und Leichtigkeit wird durch das obligatorische “Gib mal nen Kuss auf Lydia” apostrophiert.

Auf dem Heimweg ins Schloss Gripsholm steht die Sonne hoch am Himmel, die Luft ist warm und fast ein wenig schwül. Der leichte Sommerwind weht Blütenstaub und zarte honigsüsse Aromen hinüber. Die “Prinzessin” und ihr “Daddy” fühlen sich angenehm müde von Sonne, Luft - und Liebe.

Credit:Kangourette


Ich hoffe, ich konnte euch mit dieser kleinen Skizze einen brauchbaren Eindruck dieses wunderbaren Lindenblütenduftes vermitteln - und euch vielleicht ein wenig Lust auf Tucholsky-Lektüre machen.

Natürlich wurde diskutiert, inwieweit Kurt Tucholskys Erzählung autobiographische Züge aufweist, was dieser übrigens bestritt.*** Die Widmung „Für IA 47 407“ bezog sich jedenfalls wenig diskret auf die Journalistin Lisa Matthias (deren Autokennzeichen entsprechend lautete) mit der er 1927 bis 1930 eine Beziehung hatte und in Schweden nachweislich Urlaub machte. 1929 emigrierte er nach Schweden, wo er bis zu seinem Selbstmord im Jahr 1935 lebte.

Schloss Gripsholm Credit: https://www.cityguide.info/stockholm/gripsholm/


Jedenfalls ist es schön, sich bei Bedarf ein wenig Gripsholm-Feeling aus dem Flakon gönnen zu können um die “Seele baumeln" lassen zu können - und diese Romanze muss im Gegensatz zu der von Lydia und Kurt auch nicht nach einem Sommer enden. Ihre gemeinsame Zeit in Schweden ist begrenzt obgleich sie einen kurzen Moment sogar mit dem Gedanken spielen dort zu bleiben, doch sie sehen ein: „Nein, damit ist es nichts. Wenn man umzieht, ziehen die Sorgen nach. Ist man vier Wochen da, lacht man über alles — auch über die kleinen Unannehmlichkeiten. Sie gehen dich so schön nichts an. Ist man aber für immer da, dann muss man teilnehmen.“

Wo könnt ihr die Seele am besten baumeln lassen? Gibt es einen Duft, der euch dabei unterstützt?

Bleibt gesund 

Bussis
Eure Kangourette


*erschienen 1931
**"Missingsch ist das, was herauskommt, wenn ein Plattdeutscher Hochdeutsch sprechen will. Er krabbelt auf der glatt gebohnerten Treppe der deutschen Grammatik empor und rutscht alle Nase lang wieder in sein geliebtes Platt zurück. Lydia stammt aus Rostock, und sie beherrscht dieses Idiom in der Vollendung."
***Kurt Tucholsky: Brief an Alfred Stern. In: Briefe. Auswahl 1913 bis 1935. Hrsg. von Roland Links. Berlin 1983

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